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Was geht uns die Reformation von vor 500 Jahren an? Teil 2

Wir dürfen nicht in der Vergangenheit stehen bleiben

Die Gemeinde baut ja ihr Fundament nicht auf die Geschichte, sondern auf die Offenbarung Gottes in Jesus Christus, wie sie uns in der Heiligen Schrift berichtet wird. Als Nachfahren der Täufererweckung im 16. Jahrhundert sind wir Luther und den Reformatoren zu viel Dank verpflichtet. Dennoch haben sie auch gravierende Fehler begangen. Das schmälert aber nicht ihre Dienste, denn Fehlentwicklungen gab es auch im Täufertum und in der Geschichte der Mennoniten Brüder Gemeinde. Ausserdem erfordern verschiedene Zeiten verschiedene Formen der geistlichen Erneuerung und theologischen Formulierung. Auch die ‘Gegner’ und Prioritäten können sich im Laufe der Jahrhunderte etwas verlagern.

Im Rückblick auf 500 Jahre Reformation möchte ich die folgenden Anmerkungen machen:

1- Die Beibehaltung der Kindertaufe führte zur Verfälschung der Gemeindelehre: Luther, Zwingli und Calvin hielten aus praktischen Gründen an der Kindertaufe fest, obwohl sie im Nachhinein auch manche theologischen Begründungen fanden und entwickelten. Das ganze Staats- und Sozialsystem war auf diese Praxis aufgebaut. Die Bevölkerungsregister lagen in den Taufbüchern der Kirchen, und auf dieser Basis wurden auch die Kirchensteuern berechnet. Ausserdem war damals eine Trennung von Kirche und Staat für die meisten beinahe undenkbar, denn durch die Praxis der Kindertaufe waren automatisch alle Staatsbürger auch Kirchenmitglieder.

Dass die Täufer gegen diese Praxis vehement protestierten, hatte nicht so sehr mit der Taufzeremonie, sondern mit der Gemeindelehre zu tun. Zur Gemeinde gehört man laut Lehre des Neuen Testaments aufgrund von Evangeliumsverkündigung, persönlicher Umkehr, Wiedergeburt, Geistesempfang und Glaubenstaufe. Zwischen Gemeinde und Welt besteht ein beachtlicher Unterschied und Widerspruch. Die Gemeinde der Glaubenden ist in die Welt gesandt, um zu evangelisieren, Jünger zu machen und das Reich Gottes unter dem Widerspruch des Reiches dieser Welt voranzutreiben. Durch die Kindertaufe war diese Realität verschleiert und die Gemeinde praktisch mit der Welt und der Gesamtbevölkerung identifiziert. Ausserdem entsteht durch die Kindertaufe der falsche Eindruck, dass die Christwerdung dadurch schon faktisch geschehen ist. Auch die Sakramentslehre kann in diesem Zusammenhang ganz falsch verstanden werden.

Der Sonderweg der Täufer, der damals viel Anfeindung und Verfolgung hinnehmen musste, hat sich im Nachhinein als der Richtige erwiesen und ist von den meisten Freikirchen übernommen worden.

2. Die Betonung der Gnade führte  zur Vernachlässigung der Erlösungslehre:

Da es damals in der katholischen Welt so viel einschneidende Missbräuche gab, war Luthers Betonung, ‘allein aus Gnade’ und ‘allein aus Glauben’, absolut notwendig und angebracht. Aber, wie so oft, ist das Gegenteil einer Fehlentwicklung nicht immer die ganze Wahrheit. Und in der Hitze des Gefechts kann die Betonung einer Wahrheit auch zur Einseitigkeit führen. So ist es teilweise in der Reformation mit der Erlösungslehre geschehen: Sie ist immer Gottes Werk, sie hat ihren Anfang immer bei Gott, sie ist immer ‘aus Gnade durch den Glauben, nicht aus Werken, damit sich nicht jemand rühme’. (Eph 2:8) Und doch annulliert die Gnade nicht unsere Eigenverantwortung. Im Endgericht wird Gott nicht den Mangel seiner Gnade verurteilen, sondern unsere Unwilligkeit, uns für diese Gnade zu öffnen und dieser Gnade zu vertrauen. Gott hat uns als Partner und nicht als Marionetten geschaffen. Wir sind zur Gemeinschaft fähig und können uns aus der Gottesgemeinschaft zurückziehen. Da Gott beides, ‘das Wollen und das Vollbringen’ in uns schafft, sind wir verantwortlich, ‘mit Furcht und Zittern’ uns um unser Heil zu kümmern. (Phil 2:12-13)

Die protestantische Reformation entwickelte eine Prädestinationslehre, die ganz falsch verstanden werden kann, so als ob Gott unseren Willen und unsere Entscheidungsfähigkeit annullieren würde, so als ob unsere Erlösung letzten Endes ohne jegliche Mitbeteilung unsererseits zustande kommen könnte. In diesem Zusammenhang sind die so genannten fünf Punkte des Calvinismus (TULIP: total deprivity, unconditional election, limited atonement, irrisistable grace, perseverence of the saved) aus unserer täuferisch biblischen Sicht eher seltsam oder bedenklich.

3. Das Bündnis mit dem Staat führte zum Verlust der Friedenslehre: Im Gebrauch des Schwertes und der Gewalt haben die Täufer die Lehren der Reformation nicht begleiten können. Philipp Melanchton schrieb im offiziellen lutherischen Glaubensbekenntnis der Confessio Augustana, dass ein Christ sehr wohl Krieg erklären und rechtmässig töten darf. Ulrich Zwingli starb als Militärkaplan auf dem Schlachtfeld gegen die Katholiken. Und Johannes Calvin war überzeugt, dass die Staatsgewalt auch gegen Ketzer vorgehen solle. Deshalb unterschrieb er das Todesurteil gegen Michael Servett, der in Genf die christliche Trinitätslehre geleugnet hatte. Michael Sattler hingegen wurde hingerichtet, weil er in zwei Punkten der damaligen Regierung Widerstand geleistet hatte: Er hatte sich geweigert, seinen neugeborenen Sohn in die Kindertaufe zu geben. Er hatte sich auch geweigert, den Kampf gegen die islamischen Türken als einen christlichen Auftrag anzuerkennen.

4. Kulturarbeit darf nicht Weltmission ersetzen: Die Reformation hat Europa kulturell verändert. Davon haben auch die Mennoniten profitiert. Allerdings fehlte den Reformatoren fast ganz eine Sicht für Weltmission. Diese wurde damals von den Katholiken in den neu entdeckten Gebieten in Südamerika und Asien viel stärker vorangetrieben. Aber auch die Täufer waren eine starke Missionsbewegung, weil sie Gemeinde und Mission integrierten und auf dieselbe Stufe stellten.

Als mit der Aufklärung und dem Rationalismus  der so genannte ‘Kulturprotestantismus’ in Europa entstand, hat dieser manchmal auch die Mennoniten mitgeprägt: Wissenschaft, Fortschritt und Kunst, so wertvoll sie auch sind, können nicht Glaube und Mission ersetzen, wie es z.B. Goethe noch meinte. Weltmission ist ein Auftrag Jesu Christi, der für gebildete und ungebildete, reiche und arme Gemeinden gilt.

5. Erweckung vor 500/150 Jahren ist keine Garantie dafür, dass man auf dem rechten Weg geblieben ist: Jesus sagte einmal ein hartes Wort zu den Pharisäern: Sie schmücken die Gräber der Propheten, haben aber kein Interesse, dem Leben und der Botschaft der Propheten zu folgen. So kann es uns natürlich auch mit der Erinnerung an die Reformation ergehen. Persönlich habe ich die Schriften von Luther und Calvin mit viel Freude und Gewinn gelesen, mich an Luthers wunderbarer Sprache und an Calvins klarem Denken erfreut. Sie sind uns Wegbegleiter, aber nachfolgen können wir ihnen nur begrenzt. Dasselbe gilt für die Gründungsväter der MBG vor 150 Jahren in Russland. Ihre Liebe zur geistlichen Erneuerung und ihren Mut zu Schritten in Gehorsam wollen wir nachahmen. Der Geist, der sie erweckte und bewegte, ist die einzige Garantie, dass auch wir auf dem rechten Weg bleiben – oder aber ihn wieder neu finden.

Teil 1 – HIER

Alfred Neufeld

Dieser Artikel wurde entnommen aus der September-Oktober Ausgabe der Zeitschrift Gemeinde unter dem Kreuz des Südens (GuKS) welche herausgegeben wird von der Vereinigung der Mennoniten Brüder Gemeinden Paraguays. HIER die ganze Ausgabe lesen.