Auch aus sozialpsychologischer Perspektive
Quarantäne hat anscheinend auch positive Nebenwirkungen. Mehr als einer hat seinen eigenen Lebensstil, die Werte und Prioritäten und auch die angebliche persönliche Sicherheit in Frage gestellt. Im Chaco plagt uns, neben Pandemie mit ihren zahlreichen Nebenerscheinungen, eine extreme Trockenheit, die viele Produzenten an den Rand ihrer Existenz bringt.
Einige sind wahrscheinlich durch diese Krisenzeit in ihrem Glauben geprüft und dadurch geschwächt worden. Andere sind emotional stark angegriffen und kämpfen mit Sorgen und Ängsten. Wenn ein Virus plötzlich keine geografischen Grenzen respektiert und die Gesundheitssysteme zum Kollaps bringt, stellt es uns vor grundlegende Entscheidungen in Bezug auf die persönliche Lebensführung.
Das Positive daran jedoch ist: als Christen haben wir gemerkt, dass alle unsere so sicher gedachten (wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen) Systeme ganz plötzlich ins Wanken kommen können. Dass nur Christus und das Reich Gottes bestehen bleibt!
In diesem Zusammenhang haben wir in unserer Lokalgemeinde die Erfahrung gemacht, dass durch Pandemie und Quarantäne das Bedürfnis nach Gemeinschaft und geistlichem Austausch einen Aufschwung erlebten. Besonders an dem steigenden Interesse an Hauskreisen ist das ersichtlich. Wie können wir dieses Wachstum erklären? Warum sehnen Menschen sich in unseren Gemeinden nach geistlicher Gemeinschaft?
Zum einen hat uns die Quarantäne in die Isolation getrieben. Bildungseinrichtungen und andere Orte für soziale Begegnungen wurden leergeräumt – darunter eben auch die Gemeinden. Es sollte so wenig sozialer Kontakt bestehen wie nur eben möglich um den Virus unter Kontrolle zu bringen. Anfänglich war man damit wohl auch ganz einverstanden, zumal die Ungewissheit und Angst vor der Krankheit hoch im Kurs stand. Mit der Zeit jedoch hat man mehr Informationen über den Virus, die Krankheit und wie man sich vor ihr schützen kann bekommen. Und nach über einem halben Jahr in Quarantäne merkt man nun doch, dass die sozialen Kontakte fehlen.
Der Mensch ist als soziales Wesen von Gott geschaffen worden. Seine Idee war vom Beginn der Schöpfung, dass die Lebewesen (nicht nur Mensch, sondern auch Tier) in Gemeinschaft leben sollten. In der Isolation fühlen wir uns unvollständig und uns fehlt das Gegenüber um auszutauschen und wahrgenommen zu werden. Natürlich ist die Menge an Sozialisation auch charakterbedingt.
Zum anderen hat diese, für die meisten von uns, nie da gewesene Zeit das Bedürfnis nach Antworten hervorgerufen. Existenzielle Fragen kommen in Krisenzeiten aufs Tapet. Warum lässt Gott Leid zu? Stehen wir vor dem Weltende? In welche Richtung geht die Menschheit? Ist die Pandemie eine Strafe Gottes? Solche und ähnliche Fragen führen die Menschen dazu sich zu hinterfragen und Antworten zu suchen; sich zu informieren. Das ist an und für sich gut. Leider ist jedoch die Menge an Information über diese Themen unendlich gross und auch unübersichtlich. Man findet Antworten und Argumente für alle verschiedenen Überzeugungen und Strömungen. Oft sucht man nach Informationen um seine eigenen Positionen zu untermauern und ist der Meinung, nur diese eine Richtung ist richtige. Dem anderen geht es genauso, und auch er findet Informationen und (biblische) Argumente, die seine Position unterstützen. Und so kommt es, dass wir viele zum Teil entgegengesetzte Ansichten haben, die alle ein Körnchen Wahrheit besitzen, jedoch nicht das ganze Bild sehen. Die auch nicht wirklich bibeltreu argumentieren.
Die Zusammenführung dieser zwei Tatsachen – Isolation und existenzielle Orientierungsbedürftigkeit – ist ein fruchtbarer Boden für Irrlehren. Besonders für Irrlehren, die in den sozialen Medien und im Internet kursieren. Aber er ist auch eine Gelegenheit für die Gemeinde. Wir haben die Chance in den Gemeinden den Hunger und das Bedürfnis nach Sicherheit und Antworten zu nutzen um gesunde Lehre auszuteilen.
Gott sei Dank scheinen sich die Vorschriften auch schon allmählich zu lockern, so dass wir die gesunde Lehre auch wieder in einem sozialen Kontext weitergeben können. Dazu möchte ich auffordern. Lassen wir nicht zu, dass Gemütlichkeit und Passivität zur Gewohnheit werden. Als Christen sind wir bevorzugt, weil wir die Antworten haben und uns nicht von der Angst kontrollieren lassen brauchen. Lasst uns mutig und offen über die existenziellen Fragen des Lebens nachdenken und reden. Und nutzen wir die erlaubten Rahmen um zusammenzukommen. Der Mensch lebt nicht gern allein!
Psychologe Thilo Harder