„Denn euch ist heute der Retter geboren, der Christus, der Herr, in der Stadt Davids.“
Diese Worte des Engels aus Lukas 2,11 sind vielen von uns als die frohe Botschaft bekannt, die den Hirten auf den Feldern bei Bethlehem überbracht wurde. In vielen Erzählungen, Andachten und Anspielen rund um Weihnachten wird betont, dass diese Hirten arm und unbedeutend waren. Häufig wird diese Geschichte so interpretiert, dass Gott gerade den Geringsten und Vergessenen erschienen sei, um zu zeigen, dass sein Herz besonders für die Ausgestoßenen schlägt. Natürlich stimmt es, dass Gott besonders den Bedrängten und Gebrochenen beisteht, doch in Bezug auf die Hirten in Lukas 2 ist dies ganz und gar nicht die zentrale Botschaft. Eine genauere Betrachtung dieser Hirten und ihrer Rolle im jüdischen Kontext wird uns erneut zeigen, wie aufmerksam Gott das Weihnachtsgeschehen im Alten Bund, den er mit Israel geschlossen hat, eingeflochten hat, um diesen zu erfüllen und einen neuen Bund in die Wege zu leiten.
Die Bibel berichtet, dass die Hirten in der Nähe von Bethlehem auf den Feldern standen, als der Engel ihnen die Botschaft überbrachte. Diese Felder lagen also nicht in der Wildnis, wie es bei gewöhnlichen Hirten der Fall war, sondern in unmittelbarer Nähe von Bethlehem, in einer Gegend, die dazu diente, die Schafe für die Tempelopfer zu züchten. Die Hirten, von denen Lukas spricht, waren demnach keine gewöhnlichen Schafhirten, sondern Priester mit einer hoch angesehenen Aufgabe. Sie hüteten nicht irgendeine Herde, sondern die Schafe, die für Opfer im Tempel in Jerusalem bestimmt waren. Diese Aufgabe war von solcher Bedeutung, dass nur Priester sie übernehmen durften.
Wie wissen wir, dass dies Priesterhirten waren? Die Mischna, eine Sammlung jüdischer Überlieferungen und religiöser Vorschriften, stellt klar, dass Schafe in Israel nur in der Wildnis gehalten werden durften – mit einer Ausnahme: Die Schafe, die für die Opfer im Tempel bestimmt waren, durften in der Nähe von Bethlehem auf den umliegenden Feldern gehalten werden. Diese Schafe wurden in der Umgebung von Migdal Eder, des „Turms der Herde“, von Priestern gepflegt und überwacht. Nur Priester, die den höchsten religiösen Anforderungen genügten, durften diese Schafe betreuen, um sicherzustellen, dass sie für die Opferdienste unversehrt und makellos waren. (Mehr zum Hintergrund von Migdal Eder und den Priesterhirten Bethlehems in Lukas 2 findet man im Buch von Alfred Edersheim – The life and times of Jesus the Messiah.)
In Micha 4,8 wird der „Turm der Herde“ als Ort beschrieben, von dem der Messias kommen würde: „Und du, Migdal Eder (hebräisch für Turm der Herde), du feste Burg der Tochter Zion, zu dir wird kommen die frühere Herrschaft, das Königreich der Tochter Jerusalem.“ Diese Prophezeiung deutet darauf hin, dass der Messias aus Bethlehem, in der Umgebung von Migdal Eder, kommen würde, wie es letztlich auch der Fall war, nachdem Maria und Joseph auf Anordnung des Kaisers Augustus zur Zeit der Geburt Jesu dorthin ziehen mussten.
Es ist erstaunlich, dass der Messias, das wahre „Lamm Gottes“, in jener Nacht ausgerechnet den Priesterhirten verkündet wurde, die bald schon die perfekten Opferlämmer für die Opfergaben in Jerusalem aussuchen mussten. An diesem heiligen Ort, an dem sonst die makellosen Schafe für die Sühneopfer aufbewahrt wurden, wurde der wahre Retter geboren, der selbst das „Opferlamm“ werden sollte. Die Verkündigung dieser frohen Botschaft bei den Priesterhirten Israels in der Weihnachtsnacht trägt den Fingerabdruck Gottes, der das Opferlamm genau nach den Vorschriften des Alten Bundes von den Priesterhirten ankündigt und begutachten lässt und im selben Moment den Weg in den neuen Bund ebnet.
Die Bedeutung dieser Hirten als erste Zeugen der Geburt Jesu wird in diesem Zusammenhang besonders deutlich. Sie wussten sehr genau, was es bedeutete, ein „unbeflecktes Lamm“ zu wählen. Und nun wurden sie als Erste Zeugen des wahren „Lammes Gottes“, das auserwählt wurde, um für alle Zeit das Opfer für die Sünden der Menschheit zu bringen.
Die Botschaft des Engels bedeutete für die Hirten also das Ende ihres Dienstes, denn Gott hatte ein für alle Mal für das perfekte Opferlamm gesorgt. Der Engel spricht von einem Retter, der für uns alle gekommen ist – der Christus, der Herr, der die Welt erlösen wird. Diese Geburt in einer bescheidenen Krippe ist der Beginn eines Erlösungswerks, das weit über die Grenzen Israels hinausgeht. Jesus, der Retter der Welt, wird das wahre Opferlamm sein, dessen Blut für die Sünden der Welt vergossen wird.
In dieser Offenbarung dürfen wir Hoffnung finden. Es ist nämlich kein Mensch, der das Lamm auswählt, um es Gott zu opfern. Es ist Gott selbst, der das perfekte Lamm gibt, um ein für alle Mal ein Sündopfer für uns zu geben. Diese Hoffnung darf auch uns mit Freude erfüllen und soll uns – genau wie die Hirten in jener Nacht in Bethlehem – zu einer persönlichen Begegnung mit unserem Heiland bewegen.
Frohe Weihnachten.
– Thomas Dürksen